© Facts, 1995-10-05; Seite 121; Nummer 40
Kultur cantautore
Mimmo Locasciulli
Doktor Jekylls Nachtgesang
Italiens bester Cantautore, in der Heimat verkannt, führt ein Doppelleben.
Sirenen, Gekreische, fiebernde Hektik. Minuten nach dem von Mehmet Ali Agca auf dem Petersplatz
verübten Attentat wird Papst Johannes Paul II. am 13. Mai 1981 notfallmässig ins Spital eingeliefert. Auf
dem Arbeitsplan des Römer Ospedale Santo Spirito steht Doktor Mimmo Locasciulli - an diesem Tag hätte
der Dottore weltberühmt werden können als «der Mann, der den Papst operierte».
Aber Locasciulli schwänzte seinen Dienst. Statt dem Stellvertreter Gottes auf Erden das Leben zu retten,
klimperte er zu Hause an seinem Konzertflügel selbstvergessen vor sich hin und komponierte, fernab aller
Aufregung, eine Ballade.
Locasciulli führt ein Doppelleben: Neben seiner bürgerlichen Karriere als Arzt schreibt und singt er Lieder.
Als Musiker ist er - halb poète maudit in Chansonniertradition, halb versoffener Rocker - der Beste seines
Fachs, des kriselnden Cantautore-Genres. Nachdem er tagsüber im Spital gearbeitet hat, verkriecht er sich
nächtelang in sein Tonstudio auf dem Land und lebt dort seine andere Identität aus. Zwischen Doktorkittel
und Nachtgesang schläft Locasciulli, sagt er, «etwa drei Stunden».
Berühmt hätte der heute 46jährige schon 1971 werden können: Als sich der Medizinstudent mit seiner
Klampfe damals dem Kreis der italienischen Bob-Dylan-Jünger im Römer Folkstudio anschloss, hatten die
Platzhirsche Antonello Venditti und Francesco De Gregori, die späteren Topstars der Branche, eben ihr
Albumdebüt veröffentlicht. Doch ihr Glück blieb Locasciulli, der seit 1975 ein Dutzend eigener Alben
publizierte, versagt. Internationale Bühnen lernte er nur als De Gregoris Begleitpianist kennen.
Ende der achtziger Jahre hätte Locasciulli berühmt werden müssen: 1986 hatte er an einem Festival in
Sanremo Tom Waits' Bassisten Greg Cohen kennengelernt. Die italienisch-amerikanische
Künstlerfreundschaft förderte drei der besten Alben zutage, die Italiens Autorenlied je hervorbrachte. Cohen
verlieh, zusammen mit New Yorker Musikerkollegen wie dem Gitarristen Marc Ribot, Locasciullis Werk eine
neue Dimension. Dank jazzigen Arrangements, gewitzten Brechungen und musikalischer Ironie wurden die
Canzoni doppelbödig, hintergründig, weltoffen.
Für Italien war diese Musik schlicht zu gut, um wahr zu sein: so weit vom immergleichen
Durchschnitts-Italopop entfernt, den die immergleichen Studiomusiker und Produzenten in immergleichen
Studios lieblos einspielen, dass nicht einmal die Fachkritik deren Qualität erkannte.
Die Plattenfirma blieb auf den CDs sitzen und drängte den unverstandenen Künstler, er möge «doch wieder
italienischer» tönen. Locasciullis neues Album, wiewohl erneut mit Greg Cohen konzipiert, tönt denn etwas
konventioneller. Dank eines Duetts mit Francesco De Gregori, einer bildhaften Metapher zum Zeitgeschehen
in bester Tradition der Römer Liedermacherzunft «scuola romana», verkaufte sich die Platte in Italien 13
000mal. Allein: Die Marktleader Eros Ramazzotti und Zucchero setzen in der Heimat exakt tausendmal mehr
CDs ab.
«Italien ist kein zivilisiertes Land», seufzt Locasciulli in seiner durchaus zivilisierten Römer
Eigentumswohnung inmitten von Antikmöbeln, Perserteppichen und Messingkerzenständern. Hier deutet
nichts darauf hin, dass der Arzt und Familienvater glaubhaft als verruchter Tom Waits à l'italienne auftritt. Im
Gespräch aber lässt er erahnen, weshalb seine Songs oft so abgründig, so scharfzüngig sind. «Von allen
Menschen ist Silvio Berlusconi derjenige», schimpft er über Italiens Ex- und
Möchtegernwieder-Ministerpräsidenten, «den ich am tiefsten verachte.» Das Spottlied über Berlusconi, «Il
Cane» («Der Hund»), hätte Locasciullis Album den Namen geben sollen. Doch die Plattenbosse wählten
den unverfänglicheren Titel «Uomini» - «Menschen».
Zwar winkt Locasciulli jetzt späte Genugtuung: Für den von einer Fachjury Ende Oktober verliehenen
italienischen Musik-Oscar Premio Tenco gilt er diesmal als Favorit. Dass er jedoch weltberühmt würde,
damit rechnet der Dottore längst nicht mehr.
Bänz Friedli
Am 13. Oktober in der Mühle Hunziken, Rubigen. Schweizer Tournee im November.
VERRAUCHT UND VERRUCHT: Der Doktor auf der Bühne.
«UOMINI» erscheint jetzt in der Schweiz.
Foto: François gribi