© Bund, 1995-10-16; Seite 7; Nummer 241
feuilleton
Mühle Hunziken / Der italienische Cantautore Mimmo Locasciulli
Doktor Rauhbeins Medizin
Brigitta Niederhauser
bnb. Im Januar wird Silvio Berlusconi wegen
Korruptionsverdacht vor Gericht gestellt: Derweil am
Wochenende ein Richter in Mailand diesen Entscheid
gefällt hat, singt einer in der Mühle Hunziken für
Berlusconi ein Lied, der längst die Games des
TV-Cavaliere durchschaut hat.
«Von ganzem Herzen» widmet Mimmo Locasciulli den Song «Il
Cane» dem Caro Silvio. Doch bevor er das
Lied vom armen Hündchen, das die Welt nicht so sieht wie
sie ist und jeden neuen Meister für den besten
der Welt hält, räumt der Römer Cantautore noch ein paar
Missverständnisse aus und präzisiert: «Nein,
Berlusconi
ist kein Hund - Berlusconi è un bastardo.»
Mit Mimmo Locasciulli tritt in der Mühle Hunziken einer
auf, dessen Beruf es ist, exakte Diagnosen zu stellen
und der auch in Berlusconis blendender TV-Scheinwelt die
Augen offen hat, steht doch der Sänger tagsüber
als Arzt im grellen Operationssaallicht eines Römer
Spitals. Auch mit seiner Beurteilung der italienischen
Bevölkerung hält er sich nicht zurück, und wenig
schmeichelhaft ist das Schimpfwort, das er an gut die
Hälfte der fünfzig Millionen Italiener austeilt. Der
Dottore beschönigt nichts, doch so unerbittlich er auch das
italienische Malaise diagnostiziert, so hellhörig
poetisch nimmt er dafür Herzflattern, Atemlosigkeit und
Sehnsuchtsfieber wahr. Als Jahrmarktsclown, mit Melone,
schwarzem Anzug, rotem Halstüchlein und
schweren Szenenstiefeln zieht er durchs Land, als
munteres Rauhbein, der dem Publikum virtous seine
bitteren Medizinen andreht und der es mit handfester
Hoffnung betört, bewegen sich doch seine Lieder dort,
wo nicht wenige Aufbrüche in der italienischen
Cantautori-Landschaft beginnen: in der Eisenbahn. Im
klassischen Ferrovia-Statale-Dunst, der immer wieder auch
Lucio Dalla, Francesco de Gregori oder - in
seinen guten alten Zeiten - auch Adriano Celentano inspirierte.
Ob im Zug der Sehnsucht oder jenem
Palermo-Milano, unterwegs zu den Sternen oder weg von
einer unglücklichen Liebe - der ratternde
Nachtzug mit seinen rauchigen Schmuddelabteils der
zweiten Klasse hält das italienische Autorenlied in
Bewegung. Und ganz diesem fast hypnotischen Rhythmus
verfallen ist auch der Dottore Locasciulli, der nur
noch schlafen kann, wenn er träumt.
Laut und rauh mit viel jaulenden Gitarren, kratzigem
Stehbass und derber Handorgel drehen Locasciulli und
seine Rumpelband in der Mühle mit alten Songs wie «Cara
Lucia» und «Domattina» oder jenen seines
jüngsten Albums «Uomini» (Mercury/Polygram) auf, die zwar
ein bisschen domestiziert daherkommen und in
ihrer träumerischen Eleganz mitunter an Francesco de
Gregori erinnern. Das ist kein Zufall: Ein alter
Kumpane von Locasciulli ist de Gregori, der auf «Uomini»
sogar einen Auftritt als Gitarrist hat und mit dem
zusammen der Dottore manchmal seine Lieder schreibt.
Doch live rotzt und grinst ein unverkennbarer Mimmo, der
an seinem Piano die Tastatur der nachtclubigen
Schunkelgrooves ebenso virtuos beherrscht wie den
ätzenden Spott. Und mit charmanter Selbstirone
erinnert er an seine eigenen Schwächen, wenn er die
Trommel umhängt und vom kleinen sardischen
Tambour Mimmo erzählt, der unbedingt ein Held werden
wollte, den ehrenhaften Vorsatz aber immer auf
morgen verschoben hat. Und je länger er in Fahrt ist,
desto unverständlicher ist es, weshalb der Dottore, der
in den gut zwanzig Jahren seiner Karriere ein Dutzend
Alben veröffentlicht hat, es in Italien weder in die
Hitparade noch in die Jukeboxes der Strandbars geschafft
hat.
Ob der «Sapore della Realtà», der Geschmack der Wahrheit,
daran schuld ist, mit dem fast alle seine Songs
infiziert sind? Ein Aroma, das aber der Dottore ebenso
genüsslich inhaliert wie die Zigarette und die
unumwundene Begeisterung des Publikums in der Mühle.
Der römische Arzt Mimmo Locasciulli ist einer der ganz
Grossen der italienischen Cantautore-Szene, der
aber bis heute vom breiten Publikum noch nicht entdeckt
worden ist. (Bild: Christian Dietrich)